Ein Stück Freundschaft schenken

„Sprache ist der Schlüssel“, sagt Naeem Ahmadzy auf die Frage, was das Wichtigste sei, um sich in einer unbekannten Umgebung zurechtzufinden. Der junge Mann hat diesen Schlüssel gefunden. Sein flüssiges Deutsch ist das Ergebnis eifrigen Lernens, es steht als Kennzeichen einer gelingenden Integration in einem fremden Land und einer neuen Kultur. Ahmadzy kommt aus Afghanistan. Von dort machte er sich vor drei Jahren allein auf den Weg. Damals war er 15 Jahre alt. Die Flucht dauerte zehn Monate und endete in Aachen.

Das Jugendamt sorgte für seine Unterbringung, für Sprachkurse, Schulbesuch und für die Betreuung durch einen Vormund. Mit dem Erreichen der Volljährigkeit ist es mit dieser Betreuung vorbei. Als 18-jähriger muss sich Ahmadzy eine eigene Wohnung suchen und ohne kontinuierliche Hilfe klarkommen. Zwar hat er die Sprache gelernt und begonnen, sich in seiner neuen Heimat einzugewöhnen. Seine Offenheit und Kontaktfreude helfen ihm dabei. „Ich gehe gern auf Menschen zu, auch wenn ich Vorbehalte spüre. Dann sage ich: „Es wäre gut, wenn wir uns besser kennenlernen würden.“ So nimmt der junge Mann sein Leben selbst in die Hand. Auf eine Begleitung will und kann er dabei allerdings noch nicht verzichten. „Ich habe keine großen Probleme“, sagt Ahmadzy, „aber ich brauche jemanden, der mir die Dinge erklärt.“ Seit einem Jahr hat er einen solchen Begleiter, der ihm dabei hilft zu verstehen, wie Deutschland und wie Aachen „funktioniert“. Vermittelt hat ihn das Projekt „Aachener Hände“.

Zahlreiche Initiativen im Gebiet des Bistums Aachen engagieren sich für die Begleitung und Integration von Flüchtlingen. Neben der Beratung und Unterstützung in Alltagsfragen geht es auch darum, einander kennenzulernen – wie hier beim „Fest der Begegnung“ in Linnich-Welz.

Ich habe keine großen Probleme, aber ich brauche jemanden, der mir die Dinge erklärt.

Lotsen in einer fremden Kultur
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Eine große Zahl von minderjährigen Flüchtlingen kommt ohne ihre Familie nach Deutschland, und ihre Zahl steigt. Mit dem Erreichen des 18. Lebensjahres sind sie auf sich allein gestellt und müssen ihren Lebensweg in einem vollkommen fremden Land ohne Unterstützung durch eine Bezugsperson gehen.

Hier setzen die „Aachener Hände“ an. Das Patenschaftsmodell hat der Katholische Verein für soziale Dienste in Aachen e.V. (SKM) im Jahr 2014 ins Leben gerufen. Wie andere Initiativen ähnlicher Art im Bistum Aachen vermitteln und begleiten die „Aachener Hände“ Patenschaften für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge und erfüllen damit eine Brückenfunktion. Die Paten schenken den jungen Menschen Zeit, Vertrauen, Aufmerksamkeit und Wertschätzung. Sie helfen in Alltagsfragen, bei Behördengängen und bei Bewerbungen, sie unterstützen beim Lernen und fungieren als Lotsen in einer fremden Kultur. Im Vordergrund steht, einfach da zu sein und Menschen nicht allein zu lassen. Denn die Flucht und der Verlust von Familie, Freunden und vertrauter Umgebung machen einsam. Ohne eine Begleitung auch nach Erreichen der Volljährigkeit droht die bisherige erfolgreiche Entwicklung der jungen Menschen abzubrechen.

Auch die Paten werden bei ihrem Engagement nicht allein gelassen. Der SKM sorgt für die Beratung durch pädagogische Fachkräfte, ein qualifiziertes Fortbildungs- und Schulungsangebot, den Austausch mit anderen Paten sowie den nötigen Versicherungsschutz. Drei hauptamtliche Fachkräfte koordinieren und begleiten das Projekt und die derzeit rund 80 Patenschaften.

Einer der Paten der „Aachener Hände“ ist Willi Bausch. Der Rentner steht seit einem Jahr Naeem Ahmadzy zur Seite. „Wir haben mit dem Fahrrad die Stadt und das Umland erkundet, wir spielen Schach, kochen zusammen und diskutieren über Politik“, berichtet Bausch. Mit Zeitungslektüre perfektioniert Ahmadzy sein Deutsch: „Ich lese laut, und Willi verbessert mich.“ Der junge Mann hat ehrgeizige Ziele. Nach dem Abschluss der Realschule will er sein Abitur nachholen und anschließend studieren, am liebsten Politikwissenschaften. Während seine Freunde Fußball spielen oder ins Kino gehen, versenkt sich Ahmadzy in seine  Bücher und büffelt. „Naeem hat sich inzwischen voll integriert“, sagt Bausch, den inzwischen eine Freundschaft mit seinem „Patenkind“ verbindet. „Er geht seinen Weg und braucht mich eigentlich nicht.“ Ahmadzy sieht das anders: „Unsere Verbindung ist noch lange nicht zu Ende.“

Wir haben mit dem Fahrrad die Stadt und das Umland erkundet, wir spielen Schach, kochen zusammen und diskutieren über Politik.

Aus Patenschaft wurde Freundschaft. Willi Bausch (rechts) engagiert sich bei der Patenschaftsinitiative „Aachener Hände“ und steht Naeem Ahmadzy seit einem Jahr zur Seite. Der junge Mann aus Afghanistan berichtet in einem Blog über seine ersten Schritte in einer für ihn fremden Welt.

Unsere Verbindung ist noch lange nicht zu Ende.

Migrationsfonds fördert Initiativen vor Ort
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So wie Willi Bausch und die Paten der „Aachener Hände“ engagieren sich viele Menschen für die Integration von Flüchtlingen. Sie können sich bei ihrem Engagement auf ein gewachsenes Netz kirchlicher Sozial- und Seelsorge- arbeit stützen. Das Bistum Aachen unterstützt die Flüchtlingsarbeit mit erheblichen Finanzmitteln. Große Bedeutung hat der Migrationsfonds, der aus dem Asyl- und Aussiedlerfonds entstanden ist. Hieraus fördert das Bistum Aachen Projekte und Initiativen, die von unterschiedlichen kirchlichen Trägern wie Pfarreien, Caritasverbänden und Vereinen initiiert und durchgeführt werden. Das Spektrum der Aktivitäten reicht von der Sprachförderung und Rechtsberatung über Hausaufgabenhilfe und Bewerbungscoaching bis zur Unterstützung von Selbsthilfegruppen, in denen sich Zuwanderer für die Integrationsarbeit engagieren. Ehrenamtliche betreiben Begegnungscafés und Fahrradwerkstätten, erteilen Deutschkurse, begleiten zu Ämtern und Behörden, organisieren Ausflüge oder gemeinsames Kochen und sind Paten für Einzelpersonen oder Familien. Dazu gehört aber auch die Beratung und Begleitung der ehrenamtlich Tätigen, die in hohem Maß diese Initiativen tragen. 2015 wurden 160 Initiativen und Projekte mit rund 800.000 Euro gefördert. In dieser Summe sind für jede der acht Regionen im Bistum Mittel für die Nothilfe von Einzelpersonen vorgehalten.

Weitere Beispiele für Flüchtlingsarbeit im Bistum Aachen finden Sie hier.

LOT – lebendig, offen, tolerant
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Für die gelungene Koordination von Flüchtlingsarbeit vor Ort gibt es im Bistum Aachen viele Beispiele. Eines ist die Initiative LOT im niederrheinischen Willich. Dort beherbergt die zentrale Unterbringungseinrichtung im ehemaligen Katharinenhospital rund 450 Flüchtlinge. Bis über ihren Asylantrag entschieden wird und sie verschiedenen Kommunen zugewiesen werden, verbringen sie hier die ersten Wochen in Deutschland. Die Gemeinschaft der Gemein-den Willich und die evangelische Emmaus-Kirchengemein-de haben gemeinsam mit dem Arbeitskreis Fremde die Initiative LOT ins Leben gerufen, um diese Zeit zu nutzen. Lebendig, offen und tolerant – dafür steht der Name der Initiative – will LOT die aus ihrer Heimat geflohenen Menschen mit niedrigschwelligen Angeboten an ihre neue Umgebung heranführen und bei ihren ersten Schritten in der fremden Kultur begleiten. Darüber hinaus kümmert sich LOT auch um die Integration der in der Stadt angesiedelten Migrantinnen und Migranten.

Viele Bürgerinnen und Bürger engagieren sich mit Sachspenden und persönlichem Einsatz. Das Engagement muss allerdings koordiniert und auf den Bedarf abgestimmt werden. Das ist die Aufgabe von Anna Rieve. Ihre Stelle bei LOT wird aus dem Migrationsfonds des Bistums Aachens gefördert. Sie organisiert die Aktivitäten, ist Ansprechpartnerin für die Stadt und sorgt dafür, dass sich die Initiative weiterentwickelt. So ist die Kleiderkammer prall gefüllt, alle Bewohnerinnen und Bewohner sind daraus bestens versorgt. Was indes fehlt, sind Koffer und Reisetaschen, mit denen die Bewohner ihre neue Habe transportieren können, wenn sie in ihren neuen Heimatort umziehen. Rieve ist sich sicher, dass auch dieses Problem gelöst wird: „Die Hilfsbereitschaft der Bürger ist überwältigend. Wenn ich sage, dass wir etwas brauchen, dann bekommen wir das innerhalb von drei Tagen.“

Auf diese Weise wurden Bälle, Fußballtore und Tischtennis-platten für die Freizeitgestaltung angeschafft. Mit Lernspielen und Musikinstrumenten werden insbesondere die Kin-der und Jugendlichen an ihre neue Umgebung und die fremde Kultur herangeführt und die Bewohner bei ihren ersten Gehversuchen in der deutschen Sprache unterstützt. Auch die Schulen am Ort sind eingebunden. Schülerinnen und Schüler verpacken Geschenke für die gemeinsamen Feiern zu St. Martin, Nikolaus und Weihnachten.

Die Initiative LOT bietet Migrantinnen und Migranten, die sich in Willich niedergelassen haben, Angebote, die ihre Integration erleichtern und fördern. Hier trifft sich eine Frauengruppe, um spielerisch ihre Deutschkenntnisse zu verbessern.

Die Hilfsbereitschaft der Bürger ist überwältigend. Wenn ich sage, dass wir etwas brauchen, dann bekommen wir das innerhalb von drei Tagen.

Ein starkes Netz
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Im Bistum Aachen gibt es rund 1.000 katholische Verbände und Einrichtungen im karitativen Bereich mit insgesamt 31.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Mit ihrer kontinuierlichen Sozialarbeit für Zuwanderer und Geflüchtete bilden die Regionalverbände der Caritas sowie die Fachverbände unter dem Dach des Diözesancaritasverbandes ein gewachsenes Netz mit hoher Kompetenz und langjähriger Erfahrung.

Der Kirchensteuerrat hat dem Caritasverband für das Bistum Aachen 2015 zusätzlich 1,8 Millionen Euro für die Flüchtlingsarbeit zur Verfügung gestellt. Mit diesen Kirchensteuermitteln wurden zusätzliche Stellen für die psychosoziale Begleitung und die Rechtsberatung von Flüchtlingen sowie für die Beratung und Betreuung von ehrenamtlichen Helfern eingerichtet. Die Caritas-Fachteams arbeiten eng mit den Initiativen vor Ort zusammen.

Kinder und Jugendliche musizieren gemeinsam und lernen dabei ihre ersten deutschen Wörter. Die Instrumente hat die Initiative LOT zur Verfügung gestellt.
Hilfe für die Helfenden
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Über dieses Budget hinaus kommen weitere Aufwendungen des Bistums Aachen aus Kirchensteuermitteln der Flüchtlingsarbeit direkt oder indirekt zugute. 300.000 Euro stehen dem Katholischen Forum für Erwachsenen- und Familienbildung in Mönchengladbach und Heinsberg zur Verfügung, um im Rahmen der Bildungsarbeit die Flüchtlingsarbeit zu unterstützen. Neben den Angeboten von Sprachkursen für Flüchtlinge, der Fortbildung ehrenamtlicher Sprachlehrerinnen und -lehrer qualifiziert das Katholische Forum in Zusammenarbeit mit dem SKM Rheydt haupt- und ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die sich vor Ort in der Flüchtlingsarbeit engagieren. Inhalte sind unter anderem die rechtliche Situation von Flüchtlingen, ihre Lebenswirklichkeit in Deutschland, aber auch die interkulturelle und interreligiöse Sensibilisierung sowie der Umgang mit Flucht und Trauma der Betroffenen.

Und es geht um das Verständnis der Rolle im Ehrenamt. Die meisten Freiwilligen empfanden ihr Engagement als sinnvolle Aufgabe, die Sinn und Lebensfreude verschafft. Dabei sei es jedoch wichtig, sich nicht zu überfordern, sagt Helmut Keymer, Pädagoge am Katholischen Forum: „Zwischen dem Anspruch, eine Willkommenskultur zu entwickeln, und den konkreten Erfahrungen liegen oft Welten.“ In den Workshops nimmt deshalb die Frage nach der Verantwortung und ihren Grenzen breiten Raum ein. Und es geht um ganz konkrete Erfahrungen: Wie gehe ich bei der Hausaufgabenbetreuung mit Kindern um, die nicht mitmachen wollen? Wie mit den Bildern in meinem Kopf, wenn ich von Foltererfahrungen höre? Wie mit dem Unverständnis oder gar der Ablehnung meines Engagements bei Freunden und Bekannten? „Als Bildungseinrichtung des Bistums Aachen sehen wir unsere Aufgabe darin, Menschen vor Ort in ihrem Engagement zu fördern und zu stärken, konkrete Hilfen für Flüchtlinge zu ermöglichen und die gesellschaftliche Auseinandersetzung konstruktiv und kritisch zu begleiten“, sagt Keymer.

Zwischen dem Anspruch, eine Willkommenskultur zu entwickeln, und den konkreten Erfahrungen liegen oft Welten.

Brücken bauen, Gemeinschaft leben
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Bei der Integration von Menschen, die viel Leid erfahren haben, geht es indes nicht nur um materielle Versorgung und soziale Eingliederung. Es geht auch um die individuellen seelischen Nöte und Sorgen von Menschen. Hier gilt es, Vertrauen zu gewinnen, da zu sein und zuzuhören. Mit der Einrichtung zusätzlicher Stellen für pastorales Personal in der Flüchtlingsarbeit hat die Kirche deshalb ihr Angebot in der Seelsorge ausgebaut. Die drei Seelsorger in der Flüchtlingsarbeit sind sowohl für die Geflüchteten als auch für die ehren- und hauptamtlichen Personen ansprechbar. „Flucht bedeutet auch immer seelische Not, es braucht jemanden, der auf die Menschen zugeht und ihnen ein seelsorgerliches Angebot macht“, sagt Diakon Martin Schlicht, Flüchtlingsseelsorger in der Region Düren.

Insgesamt stellt das Bistum Aachen 3,9 Millionen Euro für die Flüchtlingshilfe zur Verfügung. Neben dem auf 800.000 Euro aufgestockten Migrationsfonds fließen 1,8 Millionen Euro in die Beratungs- und Betreuungsarbeit des Diözesancaritasverbands sowie 300.000 Euro an das Katholische Forum für die Schulung ehrenamtlicher Helferinnen und Helfer. Außerdem sind eine Million Euro dafür vorgesehen, kirchliche Gebäude in Wohnungen für Flüchtlingen umzubauen oder herzurichten. Das Bistum Aachen, viele Pfarreien und andere kirchliche Träger haben für die Unterbringung von Flüchtlingen bereits Wohnraum bereitgestellt.

Weitere Immobilien werden derzeit renoviert und zum Teil mit erheblichem Aufwand umgebaut, um rechtliche Vorgaben zu erfüllen, damit geflohene Menschen dort leben können. Im Jahr 2015 wurden elf Wohnobjekte gefördert.

In den zahlreichen lokalen Projekten im Bistum Aachen engagieren sich ehrenamtliche und hauptamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Sie bauen Brücken, auf denen die Flüchtlinge erste Kontakte in ihrer neuen Heimat knüpfen können. Das Zusammenleben von einheimischen und zugewanderten Menschen gelingt nicht von selbst. Es muss aktiv gestaltet werden und ist eine Aufgabe der  gesamten Gesellschaft. Die Kirche leistet ihren Beitrag, wo sie kann. Denn die Aufgabe gründet in ihrem ureigenen Auftrag und Selbstverständnis.

Mobil sein in der neuen Heimat. Viele Initiativen betreiben Fahrradwerkstätten. Wie hier in Linnich-Welz können die Migrantinnen und Migranten unter Anleitung ihre Fahrräder instand setzen.

Flucht bedeutet auch immer seelische Not, es braucht jemanden, der auf die Menschen zugeht und ihnen ein seelsorgerliches Angebot macht.